Bergluft macht gesund – sagte Ende des 19. Jahrhunderts der königliche Leibarzt zu Ernest Cassel. Der schwerreiche britische Bankier, der als junger Bankangestellter seiner Heimat Köln den Rücken gekehrt hatte, folgte dem ärztlichen Rat und begab sich in die Walliser Berge – wenn auch widerwillig.

Es wurde Liebe auf den zweiten Blick. Cassel liess sich unweit des Aletschgletschers ein ganz und gar unbescheidenes Feriendomizil bauen, in dem er jahrelang seine Sommer in Gesellschaft illustrer Gäste aus der britischen High Society verbrachte: die Villa Cassel. Heute ist das geschichtsträchtige Haus für Pensionsgäste und Besucher geöffnet, kostenlos dazu gibt es eine atemberaubende UNESCO-geschützte Gebirgslandschaft und reinste Bergluft, die zum Auf- und Durchatmen einlädt.

Lärm ist etwas, was man auf der Riederfurka nicht kennt. Woher sollte er auch kommen? Es fahren keine Autos hier oben, nur schmale Forstwege führen hinunter ins Tal, das gefühlt Lichtjahre entfernt ist. Aber eben nur gefühlt. Eine Seilbahn transportiert heute ganz komfortabel Besucher in die „Abgeschiedenheit“. Endlos kann der Blick in die Ferne schweifen, soweit das Auge reicht nur grüne sanfthügelige Matten vor dem Hintergrund schneebedeckter Viertausender, ein märchenhafter, fein duftender Arvenwald mit bis zu 1000 Jahre alten Bäumen, eine seltene Bergflora und ein atemberaubender Blick, hinunter auf den grössten Gletscher der Alpen. Und mitten in dieser malerischen Kulisse, auf einem sonnigen Plateau, thront eine vierstöckige Villa mit steilen Dächern, Ecktürmchen, Fachwerk und grosser Sonnenterrasse. Was macht ein so nobles Haus in dieser abgeschiedenen Bergwelt?

Wie aus dem Kölner Ernst Cassel „Sir Ernest Cassel“ wurde

Die Villa Cassel war das private Ferienhaus von Sir Ernest Cassel. Der deutschstämmige Bankier und Finanzberater König Edwards VII hatte, dank seines Fleisses und seiner Begabung für Geldgeschäfte, bereits in jungen Jahren den Aufstieg in die höchsten Kreise der englischen Gesellschaft geschafft. Als Ernst Cassel, aus dem «The Right Honourable Sir Ernest Cassel» geworden war, 1921 starb, hinterliess er ein Millionenvermögen, eine beachtliche Kunstsammlung, einen Landsitz in Hampshire und ein Stadthaus in London. Und eine Villa auf der Riederalp.

Es begann mit einem Besuch beim englischen Hofarzt Broadbent, der ihn wegen diffuser Beschwerden im Sommer 1895 zur Erholung in die Walliser Berge schickte. Eine Zumutung – so Cassel. Bereits die Anreise: eine einzige Strapaze! Das letzte Stück musste auf Maultieren zurückgelegt werden. Und dann die Unterkunft! Das damalige Hotel Riederfurka entsprach mit seiner niedrigen, verrauchten Gaststube und den einfachen Schlafkammern so ganz und gar nicht Cassels Vorstellungen. Bereits nach der ersten Nacht telegraphierte er sichtlich schlecht gelaunt nach London: „Hotel unmöglich, schlagen Sie etwas anderes vor. Cassel.“ Die Antwort kam prompt: „Lehne ab, Sie zu behandeln, falls Sie nicht bleiben. Ankomme nächste Woche. Broadbent.“



Abgeschiedenheit auf Rezept

Der Hofarzt wusste sehr genau, warum die Aletschregion der beste Erholungsort für seinen Patienten war. Alternativen gab es genügend, denn in den 1890er Jahren war der Sommer-Tourismus in den Alpen schon etabliert. In Chamonix konnten wohlhabende Gäste bereits unter mehreren Grandhotels wählen, in Davos kurten die wohlhabenden Lungenkranken und nach St. Moritz fuhr die englische Oberschicht sogar schon im Winter, nachdem ein Wirt einer Gruppe Engländern bewiesen hatte, dass man auf seiner Terrasse auch im Januar in der Sonne sitzen konnte.

Warum dann also gerade die rund 1900 m hoch gelegene Riederalp im Wallis, wo der Tourismus noch in den Kinderschuhen steckte? Broadbent schickte den arrivierten Geschäftsmann hinauf in die Abgeschiedenheit, damit dieser auch tatsächlich eine Auszeit nehmen und sich auf seine Gesundheit konzentrieren konnte. Cassel, der die Behandlung des angesehenen Mediziners auf keinen Fall aufs Spiel setzen wollte, blieb. Er unternahm ausgedehnte Bergwanderungen und Spaziergänge durch den Aletschwald mit seinen uralten, knorrigen Arven, deren ätherische Öle wohltuend auf die Atemwege und Blutdruck senkend wirken sollen. Die Rechnung des Arztes ging auf: Cassel erholte sich und kam bereits im darauffolgenden Jahr wieder. Es dauerte noch ein paar Jahre, bis er der Gemeinde sein Traumgrundstück abgerungen hatte, doch dann ging alles sehr schnell: Trotz erschwerter Bedingungen – schliesslich mussten die Einheimischen sämtliches Material auf dem Rücken oder mit Maultieren zur Baustelle bringen – konnte der Bauherr nach nur zwei Sommern sein Feriendomizil einweihen. Man schrieb das Jahr 1902.

Herr Churchill und das unliebsame Kuhglockengeläut

Cassel hatte sich eine elegante Stadtvilla bauen lassen, der die meisten Einheimischen in einer Mischung aus ehrfürchtigem Staunen und Kopfschütteln begegneten. Gleichwohl war man dem Bankier aus dem fernen England zu Dank verpflichtet, er unterstützte die Region und verschaffte den Bergbauern Arbeit. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs verbrachte er seine Sommerferien in der Villa, meist in grosser Gesellschaft, und er scheute keine Mühe, seine Gäste zu verwöhnen. Die Räumlichkeiten mit den teuren Parkettböden, kostbaren Stofftapeten und wohlgewähltem Mobiliar verströmten eine behagliche Atmosphäre. Zur Unterhaltung liess der Hausherr sogar ein Klavier in die Villa schaffen – zu Fuss, versteht sich. Was seine Gäste aber wohl am meisten geschätzt haben dürften, war die einzigartige Lage. So auch der junge Winston Churchill,  der im Sommer 1904 das erste Mal der Einladung seines väterlichen Freundes folgte. Schreiben wollte er, doch was war das für ein ohrenbetäubendes Geläut? Er lehnte sich aus dem Fenster und sah, wie das Vieh an der Villa vorbei auf die Wiesen getrieben wurde. Churchill war ausser sich, doch die Einheimischen verstanden nicht, was er sagte oder besser: brüllte. Churchill liess nicht locker, bis Ernest Cassel einschritt. Er  überredete die Alphirten dazu, Heu in die Kuhglocken zu stopfen. Et voilà: Monsieur Churchill hatte seine Ruhe!


Ernest Cassel 1906 (© Pro-Natura-Zentrum)
Ernest Cassel 1906 (© Pro-Natura-Zentrum)

Naturschutzzentrum, Museum, Pension und Einkehr

Wo einst Ernest Cassel frische Bergluft getankt und Englands berühmtester Premierminister sich mit den einheimischen Hirten angelegt hatte, kann man heute Ferien machen. Mehr als 100 Jahre nach ihrer Einweihung ist die gut erhaltene Villa Cassel Sitz des Pro Natura Zentrums Aletsch, das sich für den Schutz der einzigartigen Natur in der Aletschregion einsetzt, Museum und Pension. Naturbegeisterte, Wanderer und Urlauber nächtigen und speisen in den historischen Räumlichkeiten (ein Gedicht ist der hausgemachte Kuchen im Teesalon) und finden das, was auch Ernest Cassel hier suchte: Ruhe und Erholung in einer der schönsten und ursprünglichsten Berglandschaften der Alpen.

Dass der Aufenthalt in den Bergen Körper, Seele und Geist gut tut, ahnte Hofarzt Broadbent vermutlich mehr, als dass er es wusste – heute belegen dies zahlreiche Studien.

REISETIPP VILLA CASSEL

Übernachten in der Villa Cassel: In den geschichtsträchtigen Ferienzimmern der prächtigen Fachwerk-Villa zu übernachten, hat einen ganz eigenen Charme. Den Luxus erzeugen hier das historische Ambiente, die Reduktion auf das Wesentliche, der alte herrschaftliche Geist und die atemberaubende Lage. Die Übernachtung im Doppelzimmer kostet pro Person ca. CHF 120 inklusive Vollpension. Auf den Tisch kommen Spezialitäten aus der Region und hausgemachte Kuchen.

Artikel von: Aletsch Arena AG
Artikelbild: © Aletsch Arena AG